Literatur

Bauernleben in Südtirol - 12 Porträts

von Astrid Kofler und Hans Karl Peterlini


200 Seiten
© Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
ISBN: 978-3-85218-639-9



"Was nicht niedergeschrieben wird, ist vergessen. Jedes Mal, wenn ein Mensch stirbt, stirbt seine Geschichte mit ihm." Mit diesen Worten beginnt eines der eindrucksvollsten Bücher, die ich jemals lesen durfte. Johann Messner, Landespräsident der Seniorenvereinigung im Südtiroler Bauernbund bringt es auf den Punkt. Die Lebensgeschichten und Schicksale einzelner Menschen wären unwiederbringlich verloren, wenn sie nicht jemand aufschreiben würde. Er versteht die Erinnerungen gleichermaßen als Beitrag an das Gemeinwesen sowie als historisches Wissen, welches zugleich einen Einblick in die Geschichte eines ganzen Landes gewährt. Der Leser wird erfahren, wie es in jener Zeit war, als die "Armut auf der Tagesordnung stand - und in der man trotzdem glücklich und zufrieden leben konnte". Seppl Lamprecht, Vizepräsident des Regionalrates von Trentino-Südtirol, präzisiert das Anliegen des Buches dahingehend, indem er uns an das Leben "abseits der großen Schauplätze der damaligen Politik" erinnert. Und er erinnert daran, dass man noch mit den Jahreszeiten lebte und dass es eine Zeit gab, in der nicht irgendwie alles "turbo" sein musste. Für die Lektüre von "Bauernleben in Südtirol" wünscht er uns zudem einige "entschleunigte" Momente. Damit bringt auch er es auf den Punkt, denn diese Momente begegnen uns in diesem Buch an jeder Ecke - auch wenn verklärte Vorstellungen eines idyllischen Bauernlebens sehr rasch korrigiert werden ...

Marianna Abraham, Jahrgang 39, erinnert sich an ihr Leben, die Viehwirtschaft und an den Obst- und Weinbau. Am liebsten ging sie als Kind mit den Männern zur Heuarbeit, "denn zu Halbmittag gab es Speck". Sie wäre lange klein geblieben und erst mit vierzehn Jahren in einem Schub gewachsen. Dreimal am Tag musste gespült werden. Nur mit heißem Wasser. Das Spülwasser mit den Essensresten bekamen immer die Schweine. Zu tun gab es immer etwas. Auch im Winter. Dann wurden Ackergeräte und Wagen repariert, Stricke geflickt und Holz aus dem Wald geholt. Sie haben damals nicht viel gehabt ... aber an ganz wenig schon eine Freude!

Sepp Auer, Jahrgang 22, ist davon überzeugt, dass eine Frau wesentlich mehr mitmachen muss als ein Mann, und gleichzeitig ist sie diejenige, die alles zusammenhält. Er lebt auf dem Oberhof, zwei Gehstunden über St. Leonard. Seine drei Enkelkinder sind dort schon die 7. Generation. Er erzählt von seiner Einberufung 1942, von seiner Kriegsgefangenschaft und der mühsamen Heimkehr 1946 ... und davon, dass er das Traktorfahren gar nicht erst lernen wollte, da ihm die Hänge zu steil waren. Er schimpft gegen die Macht der Kirche und die Unterdrückung damals. Sklaven wären sie gewesen und hätten halt folgen müssen. In Zweierreihen hätten sie zum Beichten anstehen müssen, wie beim Militär. Mit Angst hätte die Kirche regiert, aber heute würde das nicht mehr gehen, da sonst bald niemand mehr ins Gotteshaus gehen würde.
"Die Frauen haben schon draufgezahlt damals", meint er. Schon in aller Frühe mussten sie täglich den weiten Weg in die Kirche laufen. Jahrein jahraus und bei jedem Wetter. Auch im Winter. Wenn sie am Vormittag wieder heraufkamen, "hatte sie die Knie blutrot vor Kälte und Nässe". Dann war Zeit für Haus-, Wald-, und Feldarbeit, je nach Jahreszeit. Und wenn nicht jedes Jahr ein Kind geboren wurde, kam der Pfarrer und fragte: "Hallo, was ist da los?"
Sepp Auer erinnert an wahrlich dunkle Tage, kann es sich aber selbst nicht mehr vorstellen, wie sie damals ohne Licht und Strom gelebt haben. Sehr zufrieden ist er mit seinem Leben, doch er bedauert es, dass seine Frau vor drei Jahren gestorben ist. 60 Jahre wären sie jetzt verheiratet gewesen, aber das Fünfzigjährige hätten sie ja noch gefeiert.

Alfred Kurz, Jahrgang 1936, und Anna Jud, Jahrgang 1940, lebten ausschließlich von ihren sieben bis acht Kühen und der Milch. Glück hätten sie gehabt, denn das wäre heute nicht mehr möglich. Geliebt hätten sie ihre Tiere, mit ihnen gesprochen und sie nicht behandelt wie tote Gegenstände. Man muss ein Gefühl für sie haben, wie mit den Pflanzen ...

Midl Leider "Dox" Tötsch, Jahrgang 1930, ist sich fast sicher, dass der Großvater väterlicherseits seine erste Frau erschlagen hat. Mit "sie hat eine zu heiße Fleischsuppe getrunken" umschrieb man damals diese Todesursache. Fast alle Männer hätten ihre Frauen geschlagen und getrunken hätten sie viel. Heute sei es normal, dass man nicht schlägt, doch damals war es eben normal zu schlagen, denn "schlagen hieß erziehen".
Viele Kinder seien damals gestorben. Sie waren zehn Geschwister, von denen zwei nicht überlebt haben. Der kleine Fritz lebte nur wenige Stunden. Die Mutter glaubte, dass er gestorben sei, "weil sie ihm nicht geschwind noch vor der Taufe ein Mus zum Essen gegeben habe." Später starb dann die Marie, die schon einige Monate alt war und keiner wusste eigentlich warum.
Früher spielte das Vieh die absolute Hauptrolle. Dann kamen die Felder und dann erst die Kinder. Im ersten Weltkrieg durften sich zuerst die Knechte satt essen, denn schließlich wurden sie für die Arbeit gebraucht. Wenn etwas übrig war, bekamen es die Kinder. Bei einem Nachbarn überlebten von elf Kindern nur zwei ...
Doch schön hätten sie es auch gehabt. Besonders im Frühling, denn dann ging es ins Zillertal auf die Alm. Morgens um vier ging es los. Vierzehn Stunden waren sie mit 30 Stück Vieh unterwegs, ohne Wind- und Regenschutz; sie mit zehn Jahren, den beiden Brüdern mit elf und dreizehn und der ältesten Schwester. Von Juni bis Oktober waren sie dort oben. Die Hütte war klein und ein einziger Raum. Aufgestanden wurde immer um vier Uhr und dann musste man erst einmal die Kühe suchen. Melken, Brotbacken und die Herstellung von Butter und Käse lag alles in den Händen der Kinder. Und Korn gab es auch noch reichlich. Doch Midl Leider denkt mit Wehmut an diese Zeit zurück, denn auch wenn sie es nicht "kommod" hatten, waren sie doch frei und ohne Aufsicht: "Das war wunderbar."

Viel gäbe es noch zu erzählen von all den Geschichten, der Arbeit, dem Leid und der Freude dieser Generation. Die zwölf Portraits, die aus Interviews gestaltet wurden, erlauben uns einen sehr eindrucksvollen Einblick in das einfache, aber bodenständige Leben der Bergbauern in Südtirol in den vergangenen 100 Jahren. Astrid Kofler und Hans Karl Peterlini zeichnen mit respektvoller Behutsamkeit Lebensgeschichten nach und zeigen uns in jenen Geschichten Bilder aus einer Zeit, die vergangen ist, aber in diesen Erinnerungen weiterlebt. Damit haben sie ein besonders wertvolles Zeitdokument von bleibendem Wert geschaffen. Das Wissen um die damaligen Lebensumstände kann uns ungeheuer bereichern und Sätze wie "früher war mehr Arbeit und doch mehr Zeit" stimmen mich mehr als nachdenklich und ermutigen mich dahingehend, meinen Tagesablauf in vielen Punkten einmal grundlegend zu überdenken ...

 

Thomas Lawall - Dezember 2010

 

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