Literatur

Ausgekippt im All
Erzählungen


von Doris Wirth


152 Seiten
© Edition Thaleia, St. Ingbert 2013
www.edition-thaleia.de
ISBN 978-3-943382-04-4



Man kann gar nicht viel erzählen über die Menschen in diesem Buch. Sie wissen ja meist selbst nicht viel über sich und die Welt zu berichten. Wie denn auch, wenn sie die Welt noch gar nicht gefunden haben. Sie leben und treiben vor sich hin und funktionieren irgendwie. Man könnte ja einmal aufstehen, sich wehren und gegen den Strom schwimmen. Aber nein, es gelingt nicht, weshalb die meisten scheinbar in stiller Ergebenheit ihrem unausweichlichen Schicksal entgegen treiben.

Wie jene Mara ("Lene kommt"), die vielleicht die Suche schon aufgibt, bevor sie überhaupt etwas gefunden hat. Nirgendwo richtig angekommen, bedauert sie dennoch ihren "lächerlich winzigen Zeitanteil, ihr Leben, ihr Stück Welt". Erst 25 Jahre alt, hat sie bereits Angst vor dem Altwerden und was jenseits der Dreißig und Vierzig sein wird. Auch ihren Kindern würde es so gehen, wenn sie welche hätte. Alles wäre zunächst möglich, "das zaghafte Strampeln und sich Zurechtfinden", doch "wenn man dann endlich mit den Flügeln schlagen konnte, hörte das Herz schon langsam damit auf".

Mara flüchtet vor Allem und Jedem, vieleicht auch vor dem Glück. Die feinsten Zwischentöne stürzen sie in Abgründe. Wenn es ihren Eltern soweit gut geht, erschreckt sie das "soweit". Und schon ist eine auf ihre eigene Zukunft gerichtete Projektion verfügbar und sie sieht sich schon ein ganzes "Leben lang an diesem Küchentisch sitzen" und es würde ihr dann "soweit gut gehen". Gleichzeitig fürchtet sie Beziehungen, denn dann wäre sie "nur noch ein Teil von etwas", weshalb sie auch ihre Freundin Lene fragt: "Du allein, gibt es das noch?"

So wie die zwei Namenlosen, die jene Reduktion auf die Spitze treiben. Sie spielen das Spiel "Niemand mehr sein. Keine Geschichte mehr haben." Leider ist es ein Wunschtraum und ein bezaubernder Widerspruch, denn wenn "ich denke: nichts mehr denken", sind drei Seiten Gedanken einfach zu viel. "Am Fluss gehen zwei" wagt trotzdem dieses Experiment. "Nur da sein. Mit dir niemand und niemand mehr sein." Eine schöne Vision.

Doris Wirth erzählt von Menschen, die nicht wissen oder sich nicht sicher sind, was sie wollen ("Helsinki"), denen permanent etwas fehlt, die sich "einfach so dazwischen" fühlen, "nicht richtig hier, nicht richtig da" ("Die Nymphe"), und die sich wünschen, in Zügen zu sitzen, die niemals ankommen ("Der Sommer nach den Sommern zuvor"). Inwieweit hier Autobiografisches verarbeitet wurde, können Leserinnen und Leser nicht wissen, aber gewisse Vermutungen drängen sich geradezu auf.

Eine Anleitung zum Glücklichsein ist das Buch sicher nicht. Eher eine Anleitung für gar nichts, und doch findet man unglaublich viel, selbst wenn man gar nichts gesucht hat. Im paradoxen Universum der Melancholie verläuft man sich oft, und nicht wenige sogar gerne. Rat- und sprachlos steht man einem Gebirge aus unsichtbaren Widerständen gegenüber. Liest man "Ausgekippt im All", findet man vielleicht die eine oder andere Situation wieder, die man schon kennt oder die einem zumindest bekannt vorkommt. Seinen Erinnerungen ist man nicht mehr hilflos ausgeliefert, denn jetzt gibt es Worte dafür!

Ein Buch der leisen (Zwischen-)Töne. Doris Wirth schreibt mit aller Bescheidenheit, jedoch in einer seltsam-intensiven Präsenz. Sie läuft ständig weg, aber sie versteckt sich nicht. Ich wusste gar nicht, dass man Stille lesen kann. Ich wusste gar nicht, dass lächelnde Menschen (fast) zu Liedern werden können. Ich wusste gar nicht. Ich. Nicht.

Andere mögen es anders sehen - im Lesen von "Ausgekippt im All" bin ich jedenfalls nach Hause gekommen. In der Zeit zurück gereist. Dahin, wo alles noch anders war. Dort, wo alle Züge losgefahren sind. In jenen angebrochenen Jahren voller Unverbindlichkeiten. Unklar waren die Wege und die Ziele. Eigentlich war gar nichts klar. Und dennoch existierte so etwas wie Freiheit oder zumindest eine Ahnung davon. Etwas davon gibt mir dieses Buch zurück. Gedanken, Gefühle und Stimmungen sind also doch nicht gänzlich verloren. Dieses Buch hat sie aus verborgenen Winkeln gelockt. Schnell noch einmal so denken wie früher, bevor sich die Erinnerungen wieder, "ausgekippt im All", verflüchtigen. Schnell noch einen Zug erwischen, "der für immer weiterfahren würde".

 

Thomas Lawall - Januar 2014

 

 

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