Aus der Welt
von Karl Ove Knausgård
926 Seiten © der Originalausgabe 1998, Karl Ove Knausgård & Tiden Norsk Forlag, 1998, Oslo © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 Luchterhand Literaturverlag, München www.luchterhand-literaturverlag.de ISBN 978-3-630-87437-1
Die Geschichte ist schnell umrissen. Henrik Vankel zieht für ein knappes Jahr in einen Ort direkt am Meer "im nördlichsten Norwegen". Sein Alltag als Aushilfslehrer gestaltet sich eher unspektakulär, wenn da nicht seine Schülerin, die dreizehnjährige Miriam, wäre ...
Spektakulär ist erst einmal Henriks wacher Geist, der die Dinge leider viel zu oft aus einer erhöhten Position betrachtet. Da wären erst einmal die Dorfbewohner, deren Verhaltensmuster er umgehend analysiert, obwohl es da gar nicht so viel herauszufinden gibt. In Frage zu stellen aber schon, denn einerseits bewundert er ihre Freundlichkeit und dass sie ihm als Fremdem wohlgesonnen sind, relativiert dieses aber sofort, denn das an sich wäre "noch nie ein Kriterium für Güte" gewesen.
Doch das markiert nur den Beginn einer Odyssee durch Henriks wahrlich unübersichtliche Psyche, die niemand versteht, am allerwenigsten er selbst. Er erkundet und beobachtet sein soziales Umfeld, und die ganze Welt gleich mit, unentwegt und nur durch Schlaf unterbrochen. Wobei (auch) hier die Grenzen immer weiter verwischen.
Henrik ist längst "aus der Welt" gefallen, an was er sich klammert, sind Momente, die, egal in welcher Schattierung auch immer, keinen rechten Sinn ergeben wollen. Dass sie das nicht können, sieht er nicht. Deshalb muss er weiterziehen, von seiner endlosen Gedankenflut über alle Ufer gespült. Ein furchtbar kluger Mann mit furchtbar großen Problemen. Eines davon ist weiblich und 13 Jahre alt. Es passiert nicht all zu viel, doch das was passiert, liegt jenseits der unsichtbaren Grenze, die niemals überschritten werden sollte.
Die räumliche Flucht, für die er sich deshalb entscheidet, scheint ohne Wirkung zu sein, denn er ist so oder so mit dem immer gleichen Gepäck beladen. Stets sieht er einen Ausweg, doch es sind so viele. Zu viele. Welcher ist der richtige?
"Aus der Welt" erzählt in ausschweifendem Perfektionismus von einem, der sich in der Welt und sich selbst verlaufen hat. Henrik hat eine "einfache" Fahrt gelöst, denn ein Rückweg ist ausgeschlossen. Wohin auch? Zwanghaft ergibt er sich gnadenlosen Selbstzweifeln. Leben kann er nicht, weil er es ständig zu durchschauen versucht. Jeden Gedanken sezieren und jeden Moment, jedes Gefühl, jede noch so kleine Emotion auf die Goldwaage legen.
Karl Ove Knausgård lädt uns in seinem 1998 in Norwegen erschienenen und jetzt erstmals auf Deutsch veröffentlichten Debüt zu einer aufregenden Reise durch die rastlose Existenz seiner Hauptfigur ein, die einerseits abstoßend und andererseits, trotz einiger mühsamen Längen auf den weitläufigen Rückblick in die Familiengeschichte, unendlich spannend ist.
Man befindet sich in einer permanent belastenden Aufmerksamkeit, immer gespannt auf den nächsten Satz, die nächste Erkenntnis und die nächsten Zweifel, die sich auf einer immerwährenden Überholspur nähern, bis zum nächsten Sturz in die endlosen Kellergewölbe einer beschädigten Seele, die sich selbst nicht versteht, die Angst vor dem Tod, aber auch vor dem Leben hat.
Man liebt diesen seltsamen Henrik, der alles und jeden registriert und wenn es nur die Bewegungen von auf Kundschaft wartender Taxifahrer sind, die Lässigkeit junger Leute oder jenen weinenden Mann in dem kleinen Café, seine Gedankenflut und den Sturz durch die Literatur- und Kunstgeschichte der Welt, und bedauert und verachtet ihn im nächsten Augenblick. Aber wer sagt denn, dass Hauptdarsteller immer sympathisch sein müssen?
Suche nach dem Wesentlichen und eine männliche Tragödie.
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