Literatur

Auf offenem Meer

von Bettina Balàka


136 Seiten
© 2010 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
www.balaka.at
ISBN 978-3-85218-625-2



Nikolai Iwanowitsch Wawilow ist am Ende. Ein Nichts und ein Niemand. Nutzpflanzen waren einst sein Leben - er lehrte als Professor für Ackerbau und Genetik seit 1917 an der Universität in Saratow. Da er in Sachen Vererbungstheorie dem systemtreuen Kollegen Trofim Lyssenko, der sozusagen als Chef-Biologe den Stand der biologioschen Forschung in der Sowjetunion definierte, entschieden widersprach, enthob man ihn 1940 all seiner Ämter und verurteilte ihn als Systemkritiker und Volksfeind zum Tode. Der berühmte Wissenschaftler, Botaniker, Genetiker, Geograph, Agronom und Forschungsreisende sammelte auf seinen Reisen durch fünf Kontinente nicht weniger als 250.000 Saatgutsorten und wollte durch Kreuzungen Erträge optimieren, um so dem Hunger in Russland und der Welt etwas entgegenzusetzen. Doch er kam nicht mehr dazu ...   

Im Gefängnis von Saratow erregt er die Aufmerksamkeit eines infantilen (stellv.) Gefängnisdirektors, der ihn fortan beobachtet und uns diese Geschichte aus seiner Sicht schildert. Dieser entdeckt den Hauch einer Sympathie für den Todgeweihten, scheint dieser doch seinem Schicksal mit erhobenem Haupte entgegenzusehen. Die Zustände für die Gefangenen sind erbärmlich. Aber man gewöhnt sich an alles. Den Umgang mit den zum Tode Verurteilten ist man gewohnt. Schließlich hat man oft genug Verwandte, Freunde oder Nachbaren sterben sehen - er selbst verlor drei Kinder. Die Inhaftierten betrachtet er wie Schmetterlinge, aufgespießt in einem Glaskasten.
Wawilow teilt seine Zelle mit dem Philosophen Iwan Kapitonowitsch Luppol sowie dem Ingenieur Iwan Filatow. Die "Staatsfeinde" haben beschlossen, sich gegenseitig Vorlesungen zu halten, um nicht den Verstand zu verlieren! Der stellv. Direktor kontrolliert dies gelegentlich höchstpersönlich um sicherzustellen, dass hier nicht "politische Ansichten codiert" werden.

Angehörige der "Bourgeoisie" sperrt man ein. Das System hat immer recht - wer anderer Meinung ist, findet den Tod. Hinter eiskalten Mauern fristen "die "Feinde des Volkes" ihr Dasein, doch gleichsam hat man das Gefühl, den stellv. Direktor ebenfalls in seinen ganz persönlichen Mauern eingesperrt zu sehen. Er schwankt sogar zwischen mehreren Inhaftierungsebenen. Auf der einen Seite steht die Macht seiner Frau, die ihn überreden kann, dem Gefangenen Nikolai Iwanowitsch gleich dreimal hintereinander heimlich ein Geschenk -eine klägliche Mahlzeit- zu überbringen, auf der anderen Seite die Übermacht des Systems, die ihn für diese Taten vernichten würde. Und es gibt noch eine andere Ebene: Das Leben und seine Umstände ...

Die in Wien lebende Autorin schildert (nicht nur) in "Titanic" mit eindringlichen Worten die Ambivalenz dieser allesamt eingesperrten Figuren, welche in ganz unterschiedlichen "Schiffen" auf dem "offenen Meer" des Lebens unterwegs sind. Sie deckt unbarmherzige Denkstrukturen auf und die Ironie des Lebens. Freiheit wird zum dehnbaren Begriff und stellt sich selbst und seine Definition in Frage. Nikolai Iwanowitsch Wawilow stirbt trotz Begnadigung im Januar 1943 an Unterernährung - genau weiß man es nicht. Nach dem Krieg wurde bekannt, dass die Sammlung Wawilows zu einem großen Teil erhalten geblieben war. Trotz Hunger rührten die Kollegen die Sämereien angeblich nicht an und starben für die Wissenschaft, gerade so, als ob auch sie ein Gefängnis wäre ...

In der zweiten Geschichte erleben wir einen Zeitsprung. Wir befinden uns in der Zeit Isaac Newtons und dem "Längenproblem" (um 1714). Noch fehlt es den Seefahrern an einer geeigneten Methode, die Längengrade zu bestimmen. Bekanntlich findet ausgerechnet ein Tischler die Lösung, doch auch ihm legt man zunächst jede Menge Steine in den Weg. Ein 13-jähriger Junge, der sich aus gesellschaftlichem Druck heraus und wegen den Schuldgefühlen seiner Mutter verpflichtet sieht, sich auf die irrationale Suche nach einem Vaterersatz zu begeben, begegnet ausgerechnet diesem "Mr. Harrison" auf einem Schiff, der auch ein begnadeter Uhrmacher ist - und er trifft den Matrosen Peterson, der in befragt, was ihm Meer und Himmel wohl bedeuten mögen und welche Gefühle sie in ihm auslösen. Der Junge glaubt ein Gefühl der Freiheit zu spüren, worauf Peterson erwidert: "Und dennoch ist es eine Tatsache, dass man auf offenem Meer wie ein Gefangener lebt"!

Während man sich am Ende freut, dass Isaac Newton in Sachen Längendistanz keinen Sieg davontragen konnte, verlieren wir uns in Gedanken auf unserem eigenen Schiff ... bis wir entdecken, nicht einmal das halbe Buch gelesen zu haben. Auf weitere vier Geschichten dürfen wir uns noch einlassen und dabei das Rad der Geschichte zunächst ziemlich weit nach vorne drehen ...

... denn "Friendly Fire" führt in fremde Regionen einer möglichen nahen Zukunft. Es könnte auch eine Parallelwelt unseres Planeten sein, denn die Probleme kommen uns mehr als bekannt vor. "Der Planet" ist selbstverständlich von ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen sowie vom ganz großen Krieg bedroht. Ebenso selbstverständlich geht es um Bodenschätze - diesmal um "Qasa". Kontrahenten sind der "Bund freier Staaten" und die "Liga Unabhängiger Nationen". Mitten im Endzeitszenario vor der alles entscheidenden Schlacht stehen Rupert Murdock, Kapitän des gigantischen Robotschiffs "B.F.S. Anubis", seine Frau, seine zehnjährige Tochter Elsa ... und wahrhaft unkonventionelle Scheidungsmodalitäten ...!

Auf gerade mal knapp neun Seiten entwickelt Bettina Balàka in der vierten Story eine ebenso originelle wie gewalttätige Konsequenz zweier inhaftierter Frauen. Silke und Mathilda sollen sich endlich aus ihrer Opferrolle erheben, bietet Aufseherin Stipkowitz als allgemeine Lebenshilfe an. In einer gar nicht mal so unbekannten Sportart würde man das als kapitales Eigentor bezeichnen ...

Wer jetzt die Vermutung hegen sollte, in "Merci" und "Blaue Augen", den beiden letzten Geschichten, wiederum gänzlich andere Themen zu vermuten, liegt vollkommen richtig. So sei es denn auch für heute genug, bevor ich nun doch noch zu viel verrate. Oder eine Kleinigkeit vielleicht ...? Also, im weitesten Sinne dreht es sich auch und im Besonderen um Kindergeschrei in der Provence und in der letzten Geschichte um Pragmatismus und das Vergessen schlechthin. Eines darf auf jeden Fall noch preisgegeben werden, denn Inhalt und Form der gebotenen Geschichten gehen weit über das Maß des Gewöhnlichen hinaus. Wer auf weniger zu hoffen gewohnt ist, könnte deshalb bitter enttäuscht werden, denn es gibt beispielsweise nicht die gewohnt klar abgesteckten Grenzen zwischen Gut und und Böse, keinen seicht zusammengebastelten Plot und schon gar keinen "ordentlichen" Schluss! Schließlich ist unsere gesamte Existenz eine Geschichte mit offenem Ende und die Freiheit, die wir meinen, oft nur ein Trugbild.

Gibt es so etwas wie die Freiheit überhaupt? Ist alles, was uns bleibt, der Blick auf das offene Meer und die Sehnsucht, wohlbehalten am anderen Ufer anzukommen, selbst wenn wir gar nicht genau wissen, was und wer uns dort erwarten mag? Bettina Balàka gibt keine Antworten, denn sie stellt auch keine Fragen. Vor geschichtlichem (oder fiktivem) Hintergrund erzählt sie Geschichten, die sich so zugetragen haben (werden) mögen oder nicht. Vielschichtige Geschichten, Momentaufnahmen und Streiflichter, gewebt aus Leben, Sterben, Mut, Feigheit, Gleichgültigkeit und der Einsamkeit des Individuums. Sie beschreibt die kleinen Helden und die großen Feiglinge, die es gab, gibt und immer geben wird. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass das Leben einer absurden Logik folgt ...

 

Thomas Lawall - April 2010

 

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