Astrid Lindgren Ihr Leben
von Jens Andersen
448 Seiten © 2014 by Jens Andersen und Gyldendal, Kopenhagen © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München www.dva.de ISBN: 978-3-421-04703-8
Astrid Ericsson war eine der besten Schülerinnen ihrer Klasse, damals in der Realschule von Vimmerby. Es war Studienassessor Tengström, der Schwedisch, Deutsch und Englisch unterrichtete, dem das außergewöhnliche Schreibtalent des erst dreizehnjährigen Mädchens längst aufgefallen war. 1921 besuchte er die Redaktion des örtlichen Blattes "Vimmerby Tidning", um die Texte dem Chefredakteur und Inhaber der Zeitung Reinhold Blomberg persönlich vorzustellen und zu empfehlen. So wurde Astrid Ericssons Schulaufsatz „På vår gård“ im September 1921 in der Zeitung gedruckt.
Blomberg erkannte Astrids "für unsere heutige Jugend ganz ungewöhnliche stilistische Begabung" und förderte das junge Mädchen insofern, indem er sie nach erfolgreicher Beendigung der Realschule als Volontärin einstellte. Im Alter von nur 15 Jahren betrat sie eine absolute Männerdomäne. Der zwei Jahre zuvor veröffentlichte Aufsatz ("Auf unserem Hof") beinhaltete das Thema freies Spiel, welches sich im späteren Werk der Schriftstellerin zu einer maßgeblichen Bedeutung entwickeln sollte.
Die sich entwickelnde Affäre mit Reinhold Blomberg stürzte Astrid Ericsson in eine tiefe Krise. Die Geburt ihres unehelichen Sohnes verheimlichte sie, so gut es eben ging. Sie brachte Lasse in Stockholm zur Welt, wo es entsprechende Möglichkeiten gab, dies als gerade mal 18-jährige ohne viel Aufsehen zu tun. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte Lasse in einer dänischen Pflegefamilie, bis die Pflegemutter schwer erkrankte und Astrid ihn zu sich nahm, was trotz der zunächst verwehrten Hilfe ihrer Eltern dann doch noch gelang.
Die damit verbundenen seelischen Qualen brachten Astrid Ericsson an den Rand der Verzweiflung. Depressiven Stimmungen und einem abgründigen Pessimismus musste sie sich "in dieser schlechtesten aller Welten" stellen. Sie war davon überzeugt, dass es einen Teil von ihr gibt, "der noch immer unerträglich bittereinsam ist und es wohl auch immer bleiben wird".
Um ihren beruflichen Qualifikationen - sie besuchte eine Kontoristinnenschule in Stockholm - nachgehen zu können, gab sie Lasse auf den Hof ihrer Eltern. Von 1926 bis 1930 besuchte sie ihn regelmäßig, bis sie mit ihm nach der Heirat mit Sture Lindgren, dem Büroleiter des schwedischen Automobilclubs K.A.K., eine neue Familie in Stockholm gründete. Die gemeinsame Tochter Karin folgte am 21.05.1934.
Ihren journalistischen Aufgaben und den entsprechenden Zeitungsbeiträgen folgten erste Erfolge im belletristischen Bereich. Grundgedanke in der 1937 erschienenen Geschichte "Maja bekommt einen Verlobten" war, sich als Autorin in die Lage zu versetzen, die Welt mit den Augen eines Fünfjährigen zu sehen. Es folgte die Teilnahme an zwei Wettbewerben unter maßgeblicher Beteiligung von Elsa Olenius, welche später zur treibenden Kraft der "schwedischen Kinderkultur der Nachkriegszeit" wurde.
Bereits 1941 entstand die Idee der Pippi Langstrumpf, deren Namen sich Tochter Karin ausdachte. Das Manuskript der "Ur-Pippi" schenkte Astrid Lindgren ihrer zehnjährigen Tochter zum Geburtstag am 21.05.1944. Nach einer Ablehnung des Bonniers Verlages 1943 gab sie das Manuskript an die Bibliothekarin und Theaterpädagogin Elsa Olenius, die sofort das enorme Potential des Werkes erkannte.
So, und an dieser Stelle lässt der Rezensent seine Leserinnen und Leser alleine. Es folgen noch ein paar übergeordnete Bemerkungen und, ja, ja, das unvermeidliche Fazit. Damit aber keine Irrtümer entstehen: Mit dem letzten Satz des vorhergehenden Absatzes sind wir auf Seite 204 angekommen, also nicht einmal bei der Hälfte des Buches. Jetzt wird es erst so richtig spannend! Es ist schon unglaublich, was Astrid Lindgren zusammen mit ihrer unermüdlichen Förderin losgetreten hat. Haarsträubend gestaltet sich auch die Wahl des Verlages, der sich bereits am existenziellen Abgrund wähnte.
Wenn die Süddeutsche Zeitung schreibt, Jens Andersen würde Astrid Lindgrens Werk und Leben "erschreckend neu" erzählen, trifft sie es damit auf den Punkt. Andersens Studium unveröffentlichter Quellen wirft ein anderes Licht auf die Autorin. Weshalb sie ihren Sohn erst so spät zu sich nehmen konnte, ist jetzt geklärt. Die damit verbundenen seelischen Abgründe sowie die privaten Komplikationen spart der Autor nicht aus, bleibt in seinen Betrachtungen einerseits stets der nüchternen Wahrheit verpflichtet, andererseits aber zurückhaltend, mitfühlend und stets in respektvollem Abstand.
Höchst interessant sind neben den schreibtechnischen Entwicklungen Lindgrens auch die geschichtlichen Hintergründe sowohl in Europa als auch in Schweden selbst, die sich in ausführlichen Beschreibungen ihrer "(Nach-)Kriegstagebücher" manifestieren, von welchen sie 19 Bände auf 3000 Seiten verfasste. Sie begann am 1. September 1939 mit den Worten: "Oh! Heute hat der Krieg angefangen. Niemand wollte es glauben ... Gott helfe unserem armen, vom Wahnsinn betroffenen Planeten!"
Das ereignisreiche Leben von Astrid Lindgren, ihr Werk sowie ihre An- und Einsichten, insbesondere in Zeiten privater Krisen, sowie ihr politisches Engagement sind das unsterbliche Zeugnis eines hellwachen, eigenständigen Geistes, und in einer würdigen Nachhaltigkeit verfasst. Es soll ja Menschen geben, die, wie ich, im Allgemeinen keine Biografien mögen. Bei dieser hier handelt es sich aber um eine Pflichtlektüre. Nach Studium des Buches geht man tatsächlich mit anderen Augen durch die Welt. Ganz besonders, wenn man an einem Spielplatz vorbeiläuft, die eigenen Kinder oder sich selbst im Spiegel betrachtet. Spätestens dann beginnen Astrid Lindgrens Worte über das Leben, welches "eine schnell vorübergehende Sinnlosigkeit ist" und wie man es aber trotzdem meistern kann, ihre Wirkung zu entfalten.
Auch wenn es über meine Aufgabenstellung hinausgeht, vergebe ich trotzdem ein: Besonders wertvoll!
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