Literatur

Anatomie einer Affäre

von Anne Enright


320 Seiten
© 2011 by Anne Enright
© der deutschsprachigen Ausgabe
2011 by Deutsche Verlags-Anstalt, München
www.dva.de
ISBN: 978-3-421-04540-9



Es passierte während einer Konferenz in der Schweiz. Wie so oft und immer wieder. Doch es war keine flüchtige Bekanntschaft, kein Flirt aus dem Stand heraus, keine oberflächliche Begegnung, kein spontanes Aufblitzen, kein Zusammenprall zweier unbekannter Universen, keine Zufälligkeit einerseits aber auch kein geplanter Fehltritt, und doch irgendwie aus einem gewissen Zwang heraus - fast eine logische Folge. Als es passierte war klar, dass es einfach so kommen musste. Gina und Seán trafen sich völlig unerwartet. "Die Welt ist klein." Und nun nahmen die Dinge ihren Lauf. Eine genaue Erinnerung fehlt - die Begegnung am letzten Tag der Konferenz war ebenfalls mehr zufällig. Man traf sich im Flur, ging gemeinsam auf ein Zimmer und ergab sich fast automatisiert einer spontanen Lust. Was folgte, war (zunächst) Ernüchterung und baldige Flucht.

Als weiteren Verantwortlichen könnte man im weitesten Sinne vielleicht noch den Genuss einer nicht unbeträchtlichen Menge an elsässischem Riesling ausmachen, doch ohne jene flüchtige Begegnung im irischen Enniskerry wäre dieser Abend kaum denkbar gewesen. Das neue Haus ihrer Schwester galt es damals mit einer Party einzuweihen und im Garten stand er. Dort wo der untere Teil des Gartens ihrer Schwester "ins Ungefähre übergeht". Er war mit der Aussicht auf das Meer beschäftigt und Gina mit ihrem Blick auf ihn.

Es bleibt beim ersten flüchtigen Blickkontakt und drei Jahre sollte es dauern, bis sie sich wieder treffen würden. Wieder bei Schwester Fiona, diesmal aber in Brittas Bay, wo sie für einige Wochen unweit ihres Hauses einen Urlaub im Wohnwagen verbrachten. Auf einem Parkplatz begegneten sie sich und für einen Moment schien es, "als sei der Rest der Welt in ein Zeitlupentempo verfallen". Weitreichende Folgen gab es auch hier nicht, bis zu jener Konferenz in Montreux ...

In "Anatomie einer Affäre" geht es um das alte Lied von der Entfremdung zweier Menschen, das Auftauchen einer dritten Person und die damit verbundenen Komplikationen. Keine neue Komposition also und dennoch ein Drama, welches sich in feinfühliger Intensität darstellt. Anne Enright komponiert in glasklarer Sprache messerscharf und gnadenlos die Melancholie (zwischen)menschlicher Abgründe. Wen die Leidenschaft mit aller Wucht trifft, den plagen mitunter Zweifel und das immerwährende schlechte Gewissen, das hinter weitläufiger Glückseligkeit mit erhobenem Zeigefinger hinter dem Horizont lauert. Allzeit bereit.

Anne Enright nimmt es sehr genau. Kein Moment scheint umsonst zu sein. Nichts geht verloren. In der Gegenwart und in der Vergangenheit. So kann sie von dem unmittelbar und gerade Erlebten mühelos Jahre zurückstürzen und Momente wie in einer Art Zeitreise präzise und in wahrhaftiger Millimeterarbeit wieder aufleben lassen: "Gleich wird er sich umdrehen - aber das weiß er noch nicht." Gleichzeitig entwirft sie das Psychogramm einer Frau, die nicht sehr genau zu wissen scheint, was sie will. Offenbar weiß sie den Wogen des Lebens nicht zu trotzen und verliert sich statt dessen in mehr oder weniger kopflastige Reflexionen aus Vorwürfen, Anklagen, Selbstzweifeln und verbarrikadiert sich mit Hilfe von mitunter recht kaltschnäuzigen Charakterisierungen der Menschen, die sie unmittelbar umgeben, weit hinter ihre eigene Verteidigungslinie.

Das Besondere an diesem Buch ist keinesfalls (nicht nur) die Geschichte selbst, sondern die Art und Weise, wie sie erzählt und geschrieben wurde. Keineswegs banal und geradlinig, sondern verschachtelt und komplex, genau so wie sich Karusselle aus Gedanken eben nunmal drehen, sich ineinander verflechten und sich damit nicht selten selbst zu Fall bringen. Neben der Handlung spielen die zu erwartenden Konsequenzen die tragenden Rollen. Und diese sind bitter. Wohl dem, der dies ertragen kann und wehe dem, der es nicht vermag. Denn umgehend sind sie auf dem Plan. Ganze Horden von Anklägern, die ja schon immer gewusst haben! "Du hast nie. Ich habe immer. Die Sache mit dir ist. Lieber Himmel, wie die Anschuldigungen umherflogen."

Gina sieht die Realität durch eine Art Schleier. Kein Wunder, denn dem Alkohol scheint sie gerne zuzusprechen und selbst nach einigen Gläsern Weißwein zu viel ist sie noch lange nicht betrunken. Diffus und einer klaren Sicht beraubt fällt sie durch das Leben und im Gegensatz dazu ist es mehr als erstaunlich, wie wenig diffus und in welch sprachlicher Klarheit uns Anne Enright dieses Drama zu schildern vermag! Gina wirkt wie ein Passagier in einem Zug, den sie nicht freiwillig betreten hat, und aus welchem es kein Entrinnen gibt.

Die Sprache der irischen Autorin ist ein Wunder. Sie bringt uns zum Lachen und zum Ärgern. Bittere Ironie gehen mit bösartigen Angriffen auf gesellschaftliche Normen und Spießbürgertum Hand in Hand. Ihre Sprache zweifelt und verzweifelt, stellt alle Fragen die möglich und unmöglich sind, hasst abgrundtief und liebt grenzenlos, sie erzeugt quadratmetergroße Gänsehaut und sie bringt uns zum Weinen. Spätestens beim Tod von Ginas Mutter. Sie ist bei ihr in jenen letzten Minuten und Stunden. Sitzt an ihrem Sterbebett, bis sich das Gesicht ihrer Mutter verwandelt: "In die Idee eines Gesichts ... Es sah aus wie ein Gesicht, das ihres werden könnte, sollte sie je aufwachen und es für sich beanspruchen." Sie war nicht allein, aber Gina war die Letzte, die begriff, dass ihre Mutter tot war.

Anne Enright versteht und formuliert Sprache als Kunstform. Pures Leben. Jeder Satz ein hochprozentiges Destillat. Liebe ungeschminkt: "Auch den Himmel zerrten wir herab, bis er uns wie ein Tuch bedeckte." Doppelbödige Lebensfreude: "Ich fühlte mich, als hätte ich mein Leben vernichtet und niemand sei tot. Im Gegenteil, wir alle waren doppelt so lebendig." Ambivalente Gefühle: "Nicht unbedingt Liebe und nicht ganz Krieg." Beißende Ironie: "Tatsächlich hatten einige der Frauen im Zimmer jenen konfusen Blick, den man bei Botox bekommt: als habe man eine Gefühlsregung, könne sich aber nicht entsinnen, welche."

Stets schwingt die Aussichtslosigkeit der Gesamtsituation mit und man könnte meinen, der Humor würde völlig auf der Strecke bleiben. Dem ist nicht so, wobei die Autorin allerdings stets eine gewisse Schwermut in scheinbar heiteren Momenten mitschwingen lässt. So geschehen im Haus ihrer Schwester während jener Einweihungsfeier. Überall rannten Kinder herum. Gina vermutete, "dass sie die klonen, unten in der Gästetoilette." Nicht weiter kommentieren möchte ich eine (unter vielen) neuen Wortkreationen, wie z. B der "Hypothekenliebe" ("Vögeln bei 5,3 Prozent Zinsen") oder einer "Kollateralwut". Herrlich schräg wird es, wenn die hoch geschätzte "Schwiegersippe" zerlegt wird. Und was sie über "Tot sein" (auf S. 234) schreibt, erschreckt und beflügelt zugleich ...!

Das Buch kümmert sich nicht um Konventionen und das in vielerlei Hinsicht. So ist es am Anfang und auch am Ende. Letzteres darf der geneigte Leser aber gerne selbst herausfinden und -lesen - wie auch immer es ihm beliebt. Einmal Achterbahn durchs Leben fahren. Und wer es selbst noch nie erlebt, gewagt oder wie auch immer hat, darf sich darauf verlassen, dass es so, oder zumindest so ähnlich tatsächlich ist. Oder auch nicht. Schwierig wird es nur dann, wenn man zwar das Gleiche erlebt haben mag, die Welt aber mit völlig anderen Augen sieht. Aber auch in diesem Fall bleibt "Anatomie einer Affäre" erstaunlich.

 

Thomas Lawall - März 2012

 

 

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