Amt für Mutmaßungen
von Jenny Offill
174 Seiten © 2014 by Jenny Offill © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH www.dva.de ISBN 978-3-421-04622-2
"Die Frau" hat endlich ein Baby bekommen, nachdem ihr erstes ungeborenes Kind starb, gerade als sie mit ihrem Mann die neue Wohnung in Brooklyn bezogen hatte. Doch irgendwie scheint sich das Drama fortzusetzen. Während andere in Mutterliebe vergehen, setzen sich ihre negativen Denkstrukturen fort, insofern sie aus ihrem Gebirge von Selbstzweifeln keinen Ausweg zu finden scheint.
Wie so oft schweift sie ab und driftet quer und scheinbar wahllos von der griechischen Mythologie über literarisch-schwergewichtige Zitate bis hin zur wenig fassbaren Realität des Universums. Beim Manichäismus kurz verweilend, fasziniert sie deren Lehre vom gefangenen Licht. Die Projektion auf ihr Kind ist in ihrer Wirkung kontraproduktiv, denn wenn sie ihr in die fast schwarzen Augen sieht, erntet sie, ihrer Auffassung nach, einen verlorenen Blick, "als wäre mein Körper eine Insel, an die es sie als Schiffbrüchige verschlagen hatte".
Sie wagt sich kaum aus dem Haus mit ihrem Kind. Ihre notwendigen Gänge plant sie stets so, dass sie mit dem schreienden Baby schnell wieder zu Hause sein kann. Auch den neugierigen Nachbarn bleibt nicht verborgen, dass ihr Kind oft weint. Kein Wunder, möchte man denken.
Ihre Erinnerungen tauchen auf, quälen sie eine Weile und verschwinden dann wieder. Wie die an jenen Trinker in New Orleans und an jene Bar, wo sie ihn einst getroffen hatte. Wochenlang fuhren sie "wortlos umher", und jeder schien auf seine Art allein zu sein. Auch das konnte nicht gutgehen, und schließlich packte sie ihre Sachen und fuhr allein umher. Die Zeit war schnell vergessen: "Da war nichts, woran ich mich erinnert hätte."
Eine Freude, wenn das Kind endlich zu schreien aufhört, gibt es offenbar nicht. Zwar hat sie plötzlich Momente der Ruhe, auch wenn es nur "eine winzige Stelle" in ihrem Kopf ist, doch kann sie Inseln der Freiheit nicht greifen. Statt dessen fällt sie wieder in ihre Erinnerungen zurück. Sechzehn war sie damals und lebte noch in Savannah/Georgia. Die Zeit ist verschwunden, doch fühlt sie heute wie damals, denn alles kommt ihr "befremdlich und nutzlos" vor.
Fast könnte man sich etwas aufregen über so viel selbstzweiflerische Destruktivität, wären da nicht Jenny Offills wunderbare Fähigkeiten, jenes Drama in Worte zu fassen. In einer geradezu selbstverständlichen Art und Weise skizziert sie die ungeheure Tiefe dieses Dramas. Fast leichtfüßig und auf seltsame Weise abgeschirmt, folgen wir der Spur einer Zweisamkeit, der das Glück alle Chancen gab.
Doch über jedem Anflug von Glückseligkeit schwebt unsichtbar der Untergang. Die Vergänglichkeit aller Dinge ist ständiger Gast, und als Leser kann man sich dem drohenden Ungemach nur schwer entziehen. Da sind Menschen, die nicht wissen, was sie wollen und in ihren immer weiter wuchernden Fragen die Orientierung verlieren.
Die Autorin verschenkt Worte mit ambivalentem Klang, und wenn wir ehrlich sind und den sonnigen Vorhang etwas beiseite schieben, kennen wir die Stimmungen, Momente und Erkenntnisse sehr gut. Man möchte ihnen nur nicht zu nahe treten. Ein leiser Anflug von der Idee eines Lebens, das vielleicht falsch sein könnte, wäre ein nicht zu unterschätzendes Risiko.
Was für ein wunderbares Buch. Trotz allem. Ein poetisches Konzentrat aus Leben. Menschen, die sich in Beiläufigkeit verlieren. Menschliches Treibholz. Momentaufnahmen aus dem ewigen Fluss. Man könnte erschrecken, weglaufen, oder es als Trost begreifen: "Es gibt mehr Sterne, als man jemals benötigen könnte."
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