Literatur

American Dirt


von Jeanine Cummins


556 Seiten
© 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
"American Dirt" © 2020 by Jeannine Cummins
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-499-27682-8



Das Grundgerüst der Geschichte ist schnell erzählt. Lydia muss miterleben, wie ihre gesamte Verwandtschaft von drei Mitgliedern eines Drogenkartells umgebracht wir. Sie und ihr achtjähriger Sohn überleben die Tragödie und sind fortan auf der Flucht. Ganz neu ist die Geschichte nicht. Vergleiche mit John Cassavetes' Gangsterdrama "Gloria" (1980) drängen sich geradezu auf. Die Familie eines sechsjährigen Jungen wurde von der Mafia umgebracht. In diesem Fall leistete jedoch nicht die Mutter, sondern Nachbarin "Gloria" Fluchthilfe ...

So weit, so gut. Entscheidend ist jedoch, was Jeanine Cummins aus dem vermeintlich simpel gestrickten Stoff zaubert. Sie geht mit Worten um, wie ein guter Regisseur mit Anweisungen für Licht, Bildausschnitt oder Kamera. In Ermangelung filmischer Gestaltungsmittel bemüht Jeanine Cummins eine ausufernde Metaphorik, welche sowohl einzelne Szenen als auch die gesamte Story permanent in ausdrucksstarke, leinwandgroße Bilder vor das innere Auge projiziert.

Egal, ob die Autorin die "kostümierten Auftritte" der "policia" schildert, die mit "choreographiertem Respekt" an einem Tatort herumlaufen, oder die bewegende Szene mit Lydias erschossenen Mann Sebastián, dem sie zu Füßen sitzt und trotz dieser "Art gelähmten Irrsinns", der sie befällt, das Furchtbare zu "mildern" weiß, indem sie erkennt, "dass die relative Sauberkeit seines Todes eine Art kranke Freundlichkeit ist". Tatorte des Kartells gestalten sich meist anders.

Auch die seelischen Abgründe, die sich nach und nach eröffnen, und immer weiter dramatisieren, werden nicht ausgelassen, denn Lydia und ihr Sohn Luca haben, mitten in der soeben beginnenden Hetzjagd, weder Zeit zur Trauer noch die Möglichkeit, das Geschehene auch nur ansatzweise zu verarbeiten. Das Kartell wird möglicherweise schon in diesen Minuten informiert werden ...

Es ist nicht nur die Geschichte einer atemberaubenden Flucht, sondern auch die des anhaltenden Flüchtlingsstroms nach "el norte", dem sich die beiden Verfolgten anschließen. "Einige ... erzählen ihre Geschichte vorsichtig ... und singen ihre Worte dann wie ein Gebet. Andere Migranten sind wie explodierende Handgranaten ... sie verteilen ihren Schmerz wie Granatsplitter, weil sie hoffen, eines Tages mit einer leichteren Last aufzuwachen."

Aber es bleibt auch jede Menge Raum für die Beschreibungen von Land und Leuten. Wenn man durch die Straßen der "makellosen" Stadt San Miguel de Allende, einer der Fluchtstationen, läuft, vorbei an der rosafarbenen Kirche, den überall aufgehängten Papierlampions und Bäumen, die wie "Märchenschlösser" aussehen, wähnt man sich nicht nur auf der Plaza Principal, sondern im Paradies. Mariachi-Bands untermalen den Sonnenuntergang wie jener auf einer Milchkiste sitzende Akkordeonspieler mit dem weißen Cowboyhut. Sein Instrument "wächst und schrumpft in seinen Händen wie eine riesige Lunge".

Die romantischen Zwischenspiele nutzen Lydia wenig. Priorität hat die Sicherheit und das Überleben ihres Sohnes. Auch unter Lebensgefahr, denn sie müssen mit einem Güterzug (nicht mit dem "Hochgeschwindigkeitszug" des Klappentextes) Mexico City erreichen. Sie hat zunächst noch keine Ahnung, was es heißt, mit "La Bestia" zu reisen. Und so nebenbei muss sie ja immer noch und immer wieder aufs neue mit der "vollkommenen Abwesenheit" ihres Mannes kämpfen.

Seit neun Tagen und 700 Kilometern von der "absoluten Katastrophe" entfernt, wähnen sich Mutter und Sohn in zweifelhafter Sicherheit. Das ist für das Kartell keine Entfernung und just in diesem Moment taucht eine Person aus der Vergangenheit auf. Und sie hat Informationen, welche die Dramatik der Geschichte multiplizieren ...

Die Geschichte einer Flucht, vor dem Hintergrund der zentralamerikanischen Migrationsproblematik, dem Niedergang der ehemaligen Touristenhochburg Acapulco und dem Drogenkrieg ganz allgemein, der in diesem Buch jedoch eine untergeordnete Rolle spielt. Konzentrierte Hochspannung ist dennoch, auch wenn diese zum Ende hin etwas abflacht, garantiert. Wer auch immer eine solche Flucht plant und trotz miserabler Vorzeichen durchführt, muss triftige Gründe haben, bleibt als Erkenntnis. Und weshalb man ein Buch darüber schreibt, erläutert die Autorin in ihren ausführlichen Anmerkungen.

 

Thomas Lawall - Juli 2020

 

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