Literatur

Alles muss raus

von Thilo Mischke


206 Seiten
© 2022 Droemer Verlag
www.droemer.de
ISBN 978-3-426-27872-7



Der Autor, Journalist und Fernsehmoderator beklagt ein Leben, das er "nicht mehr mit anderen Leben abgleichen kann". Bereits im Klappentext bringt er den Stand seiner Dinge auf den Punkt, sehr direkt und scheinbar ohne jeden Vorbehalt. Sein Lebensverlauf findet in jenen der anderen keine Entsprechung mehr. Dass er dennoch damit nicht alleine ist, vermutet er richtig.

Ein Alltag, der zu einem großen Teil aus Kriegen und dem Beobachten weltweiter Flüchtlingsbewegungen besteht, hinterlässt Spuren. Die Luxusprobleme der westlichen Welt verwandeln sich schnell in absurde Symptome einer verwöhnten Industriegesellschaft. Geld, Besitz, Macht, aber auch persönliche Befindlichkeiten relativieren und stellen sich selbst in Frage.

Liebe, findet Thilo Mischke, "so wie wir sie kennen, ist ein Luxus der Industrienationen" ... und dieses Kapitel, wie die meisten anderen, könnte und sollte man öfter lesen. Wie wir unsere "Sattheit aus den Ländern dieser Welt herauskolonialisiert haben", wie wir auf unseren Inseln eine Romantik kreieren, "von dem 80 Prozent der Weltbevölkerung nicht mal träumen können". Auch die Ärmsten der Armen hat er nach ihrer Definition von Liebe befragt...

Oft wechselt er Zeit- und Erzählebenen, vielleicht um die Wucht ihrer Wirkungen ein wenig zu kanalisieren, sie zu dämpfen, oder um das Leid erträglicher zu gestalten. Sprünge, die von Flüchtlingsrouten aus Brasilien über Kolumbien und Panama, quer durch das Niemandsland des Darien Gap erzählen, über bewegende Schilderungen des langsamen Sterbens des Vaters sollte man verkraften können.

"Ich sehe, wie er vor mir zerbricht. Er zerfällt in Scherben, vor meinen Augen."

Auch vom Tod seiner Großmutter berichtet er in ungeschönten Bildern. "Noch einmal einatmen", sagte seine Mutter, die mit Oma "um jeden Atemzug kämpfte". Nach jenem "Nervengewitter" war es vorbei. Das verschwundene Leben ließ nur eine Maske zurück, und schon befinden wir uns wieder in El Salvador, wo "der Tod sein Zuhause hat". An solche Orte zu fahren, ist inzwischen seine "Normalität".

In solchen Kategorien zu denken, ist freilich nicht wenigen Leserinnen und Lesern nahezu unbekannt. Mehr oder weniger beschäftigt man sich doch lieber mit sich selbst und dem unmittelbaren sozialen Umfeld. Schon deshalb bildet dieses Buch einen bitter notwendigen Gegenpol. Jenseits des alltäglichen Nachrichtenhorizonts gibt es Dauerdramen, die scheinbar niemanden mehr groß bewegen können, ja teilweise völlig unbekannt sind. Stimmen, die laut und deutlich darauf hinweisen, sind also wichtiger denn je.

Auch was Thilo Mischke zum Thema Religion zu sagen hat, ist mehr als bemerkenswert. Platz für Götter hat er keine. Was er verehrt ist "die Physik, die Mathematik und ihre strikte Ordnung der Dinge". Eine kategorische Ablehnung der großen Weltreligionen scheint ihm dennoch nicht auf die Tagesordnung zu gehören. Der Missbrauch von Religion aber sehr wohl, sowie die Vielzahl der ebenso üblichen wie weit verbreiteten Pauschalisierungen!

"Nichts in dieser Welt ist einfach, nichts lässt sich mit kurzen Schlüssen erklären".

Deshalb versucht er es auch gar nicht, was allerdings nicht bedeutet, den einen oder anderen klaren Standpunkt zu vertreten. Eine regelgerechte objektive Berichterstattung ist also nicht zu erwarten. Ein verdammt gutes Rezept. Alles, was man über Wirklichkeit und Wahrheit schon immer gerne gewusst hätte, aber nie zu fragen wagte.

Natürlich weiß er auch über die positiven Seiten dieser Welt zu berichten. Über den schönsten Ort beispielsweise, den er je gesehen hat. Für Menschen in aller Welt hat er eine bevorzugte Frage im Gepäck, und (auch) hier beginnt der Gänsehautbereich dieses bewegenden Buches ...

"Die Antworten sind immer schön, egal, wem ich die Frage stelle, egal, wie vermeintlich schlecht ein Mensch ist."

Wie dem auch sei, alles für sich zu behalten geht auf keinen Fall (gut). Die passenden Gesprächspartner sind nicht groß an der Zahl oder nicht verfügbar, wenn man sie braucht. Nach dem Bereisen von über 100 Ländern und über 1000 Interviews bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als die angestauten Bilder wenigstens teilweise herauszulassen. Damit das Fass nicht überläuft, als Selbstschutz oder wie auch immer. Hauptsache: Alles muss raus.

 

Thomas Lawall - April 2022

 

 

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