Literatur

Allein
Tagebuch eines vernachlässigten Kindes


von Christa Schwägerl


228 Seiten
© ACABUS Verlag, Hamburg 2012
www.acabus-verlag.de
www.christaschwaegerl.de
ISBN 978-3-86282-112-9



Lena Maria hält es mit ihrem kleinen Bruder unter der Bettdecke nicht mehr aus. Schließlich ist sie schon fünf Jahre alt. Maxi hat Fieber und hustet pausenlos. Sie macht Licht und gibt ihm vorsichtig etwas Wasser aus einer Flasche. Dauernd weckt er sie und langsam kann sie nicht mehr.

Und wieder ein Hustenanfall. Lena Maria überlegt, ob sie ihrem Bruder etwas Medizin geben sollte. Der Zweijährige bellt wie ein riesiger Hund, während sie vergeblich versucht, die Medizin zu öffnen. Die Kindersicherung der kleinen Flasche stellt für sie aber ein unüberwindliches Hindernis dar. Verzeifelt gibt sie auf und flüchtet sich in Mamas Schlafzimmer. Ganz kurz nur, denn wenn Maxi endlich Ruhe gibt, will sie wieder zurückkommen. Mamas Bett ist eiskalt und sie klappert mit den Zähnen, was sie lustig findet. Schließlich schläft sie ein ... und das ist ihr nächster Fehler.

Von Licht und Stimmen wird sie mitten in der Nacht geweckt. Mama kommt endlich heim, und sie liegt noch in ihrem Bett. Das wird wieder Ärger geben, befürchtet sie, und sie hat recht. "Was zum Teufel, willst du in meinem Bett?" will sie wissen und Lena erzählt ihr von dem störenden Dauerhusten. "Und dann hast du ihn allein gelassen? Solltest du nicht auf ihn aufpassen?"

Lena fängt an zu weinen, denn schließlich ist es ja "ihre Schuld", dass Maxi überhaupt krank wurde. Jetzt hat sie auch noch versagt, indem sie nicht auf ihn aufgepasst und auch noch versäumt hatte, ihm seine Medizin zu geben. Peter, Mamas Freund, ist auch schon ziemlich sauer. Irgendetwas scheinen sie noch vorzuhaben. Schließlich flüchtet sie ins Kinderzimmer, wirft die Tür hinter sich zu, springt zu Maxi ins Bett und zieht die Decke über ihren Kopf.

Maxi schläft jetzt endlich, aber Ruhe ist noch immer nicht in der Wohnung. Mama "jammert und stöhnt". Das muss wohl Peter sein, der jetzt seine Wut an Mama auslässt. Lena weiß, dass sie an allem schuld ist. Maxis Krankheit hat sie zu verantworten, "dass Peter mit Mama etwas Fürchterliches anstellt" und überhaupt alles, was schiefläuft. Ob sie Mama wohl helfen soll, denn jetzt schreit sie auch noch ...

Lena Maria ist mit der Verantwortung, die ihr ihre Mutter übertragen hat, völlig überfordert. Als Fünfjährige ist es ihr nicht vergönnt, eine Kindheit in einem behüteten Rahmen zu verbringen. Immer und zu jeder Zeit hat sie auf ihren kleinen Bruder aufzupassen. Wenn Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollen, ist stets sie verantwortlich, selbst wenn ihre Mutter einmal zufällig dabei ist.

Schläge hat sie schon oft genug dafür eingesteckt, doch ihre Mutter nimmt sie trotzdem in Schutz. Auch wenn sie sich manchmal fragt, ob diese Person, die gerade wieder so unerklärliche Dinge tut, überhaupt ihre Mutter ist, denn "vielleicht ist ein böser Geist in sie gefahren?" Schnell ändert sie ihre Meinung aber wieder, denn nur sie allein ist ja an allem schuld, und sie muss sich endlich bemühen, nichts mehr falsch zu machen. Dann ist die Mama vielleicht auch wieder öfter zu Hause. Leider ist das ein Irrtum, denn es sollte noch viel schlimmer kommen!

"Allein" erzählt eine Woche aus Lena Marias Kindheit. In Rückblenden erinnert sie sich an jene Tage, die eigentlich nicht schlecht begonnen hatten. Mama will alles ändern ...

Einen authentischen Hintergrund gibt es nicht, wie die Autorin in einem Interview versichert. Umso erstaunlicher ist es, mit welch unglaublichem Einfühlungsvermögen es Christa Schwägerl versteht, sich in die Situation der fünfjährigen Lena-Maria zu versetzen! Man muss schon sehr viel von den Gefühlswelten verstehen, in denen sich Kinder in diesem Alter befinden, um ein derart realistisches Szenario zu schaffen. "Erfinden" kann man so etwas eigentlich nicht - höchstens "erfühlen" vielleicht oder aus dem Verhalten der eigenen Kinder ableiten. Jedenfalls kann man die emotionale Zwickmühle, in welcher sich die kleine Lena-Maria befindet, und die sich anbahnende Eskalation der Zustände realistischer nicht beschreiben.

Ausgefeilt bis ins Detail sind die Dialoge der Kleinen. Auch für den Einbau von Maxis Kindersprache hat sich die Autorin viel Zeit genommen. Sätze wie "Lea sau, Matzi Deilad" (Lea schau her, Maxi fährt Dreirad) wirken nicht gekünstelt, denn sie sind echt. Nur wer selbst Kinder hat, kann so schreiben!

Neben Maxis vergnüglichen Wortreduktionen finden wir auch die typische Synthese aus kindlicher Phantasie und Realität, eindrucksvoll beschrieben, als Prinzessin Lena Maria duscht und von bösen Piraten angegriffen wird! Für das eine oder andere Schmunzeln sorgen auch Leas kindliche Logik, indem sie sich zum Beispiel Gedanken macht, weshalb Simone, Mamas Freundin, die sie in einem Café treffen, so kurze Haare hat: "Vielleicht hat sie Kaugummi in die Haare geklebt und musste sie abschneiden." Zudem schließt sie von der Größe der von Simone bestellten Espressotasse sowie dem kleinen Löffelchen, auf das ihr zur Verfügung stehende Einkommen. "Sie muss noch weniger Geld haben als wir." Selbst ihre Augenbrauen sind ganz dünn und lediglich aufgemalt! Auch ein Doppeldeckerbus regt ihre Phantasie an: "Wenn man zwei Decks hat, braucht man sicher auch zwei Busfahrer."

In Fachbüchern finden wir Leben und Verhalten von Kindern wie der jungen Lena Maria belegt. Ebenfalls den in "Allein" skizzierten Ausweg als einem von vielen, den ich hier insofern vorweg nehmen darf, als die Autorin in besagtem Interview bereits verraten hat, dass die Geschichte gut ausgeht. Im wahren Leben gelingt das leider nicht immer, was Medienberichte immer wieder bestätigen. Diese wiederum berichten andererseits in weitaus geringerem Maße darüber, dass es zahlreichen Kindern gelingt, dank aktiver Hilfe von befreundeten Familien, Verwandtschaft, Pflegefamilien, Jugendorganisationen und -ämtern, ein völlig neues Leben zu beginnen. Ein Happy End gibt es also auch in der Realität gar nicht mal so selten.

Es bleibt dennoch wirklich zu hoffen, dass diese Veröffentlichung die "richtigen" Leute aufrüttelt und nicht wieder nur jene, die sich der ganzen Problematik rund um vernachlässigte Kinder sowieso längst bewusst sind. Jedes gute Buch sollte Erfolg haben, aber diesem Buch wünsche ich, im Sinne der vielen kleinen Anna Lenas, die tagtäglich einem ähnlichen Schicksal ausgeliefert sind, einen ganz besonderen!

 

Thomas Lawall - Juli 2012

 

 

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