Literatur

99 deutsche Orte, die man knicken kann

von Dietmar Bittrich


192 Seiten
© 2016 by Rowohlt Verlag GmbH
www.rororo.de
ISBN 978-3-499-63127-6



Wer nicht lesen möchte, welche Auswahl an Gags hier demnächst zitiert wird, der möge unverzüglich die Lektüre dieser kleinen Besprechung beenden und sich schleunigst diesen überaus alternativen Reiseführer zulegen.

Gut beraten ist auch derjenige, welcher sich nicht nur ein Glas, sondern gleich eine ganze Flasche Roten bereitstellt, denn es könnte ein längerer Leseabend oder gleich ein ganzes Wochenende werden. Wo? Natürlich zu Hause, denn Dietmar Bittrich ist der Ansicht, dass es keine Ziele in deutschen Landen gibt, für die es sich die gemütlichen eigenen vier Wände zu verlassen lohnt.

Man sollte aber nicht nur sowieso gerne zu Hause sein, sondern auch eine gewisse Neigung zu schrägem Humor, beißendem Sarkasmus, schonungsloser Übertreibung und bitterer Ironie, in mittlerer bis höheren Dosierung, besitzen.

Also gut: Heidelberg kann man knicken. Selbst aus der Entfernung angeblich. Zu welcher Jahreszeit sich der Autor auf dem Philosophenweg herumgetrieben hat, ist nicht überliefert, jedoch kann man von dort sehr wohl die Schlossruine, die wie eine "im letzten Weltkrieg ausgebombte Fabrik des 19. Jahrhunderts" aussieht, bewundern. Selbstverständlich ist auch das "Universitätsklinikum mit dem Zentrum für Organtransplantation" ein lohnender Anblick.

Auch das "schnarchsäckige Apothekenmuseum" ist trotz der gegenteiligen Auffassung des Autors höchst interessant und (immer wieder) eine Augenweide. Ja gut, das zitierte Adjektiv passt dann ganz hervorragend zu dem (zusammengeschraubten) Gag mit den Handys (die mitnichten gar nicht, sondern massenweise benutzt werden) und der imaginären Prügelszene mit einem "Selfiestick".

Immerhin ist es lustig, genauso wie die maßlosen Übertreibungen bezüglich des entzückenden Rheintals, welches "nur auf Fotos genießbar ist", des wirklich erstaunlichen "Nachhalls" im Berliner Dom, oder der "Solidarität", die man als Kurgast in Bad Reichenhall angesichts der "vielen Ruinen", verspürt.

Geschmacklos wird es allerdings, wenn im Rahmen "zukunftsorientierter Aktionen" zwecks Imageverbesserungen der Stadt Reichenhall Menschen, die bei einem Mordanschlag 2015, dem Einsturz der Eissporthalle 2006 sowie dem Amoklauf 1999 ums Leben kamen, vom Autor aufgezählt werden. Bekanntlich ist aber Satire so eine Art Freibrief.

Zu den Höhepunkten des Buches gehören zweifellos die Betrachtungen zu Dresden und dem ganzen "Rentnerplunder" (frei nach Günter Grass) im "Grünen Gewölbe". Nach dem Studium von Überwachungsvideos konnte man feststellen, dass dort "häufiger und intensiver gegähnt wird als in den erfolgreichsten Schlaflabors der Welt". Die diesbezügliche Schlusspointe setzt aber noch einen drauf! Mindestens.

Nach ausgiebigem Studium des Buches verspürt man, jedenfalls wenn sich die Lachmuskulatur etwas erholt hat, eine leichte Unruhe. Ob man nicht doch (mal wieder) die Köfferchen packen sollte, und, allen Unkenrufen zum Trotz, als erstes nach Heidelberg fährt, über das Fass läuft und oben laut herunter brüllt: Humor ist, wenn man's trotzdem macht!

 

Thomas Lawall - August 2016

 

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