Literatur

Mama, das hast du schon 5mal erzählt

von Ann-Kathrin Eckardt (Hg.)


224 Seiten
© 2012 by Rowohlt Verlag GmbH
Reinbeck bei Hamburg
www.rororo.de
ISBN 978-3-499-62829-0



Wlada steht zum ersten Mal nicht mit einem Übernachtungskoffer vor der Haustür ihrer Eltern. Dieses Mal hat sie einen Umzugswagen mitgebracht. Das Leben hat für sie eine Rückfahrkarte ins Elternhaus vorgesehen. Es begann mit dem Verkauf des Hauses, in welchem sich ihre ehemalige WG befand. Auf weitere WG-Erfahrungen und die damit verbundenen Lebensumstände möchte sie aus vielerlei Gründen verzichten. Dennoch sichtet sie diverse Zeitungsanzeigen in diese Richtung, bis sie völlig unerwartet eine recht originelle WG-Anzeige in ihrem Briefkasten findet.

Sie wurde von ihren Eltern verfasst und liebevoll aus ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben zuammengebastelt und sieht fast "wie eine Lösegeldforderung" aus. Wlada Kolosowa ist 23 Jahre alt. Vor drei Jahren hat sie das Nest der Eltern verlassen und nun würde sie wieder zu Hause einziehen. Vielleicht geht es ja gut, denn ihre Eltern sind gerade mal 20 Jahre älter als sie, und sicher "wäre es kein Eltern-Kind-Haushalt mehr, sondern drei erwachsene Menschen mit Schnittmengen an Weltansichten, Musikgeschmack und Erbgut unter einem Dach" ...

Eine ganz andere Geschichte erzählt Alexa Hennig von Lange. Sie erinnert sich an frühe Kindertage, als sie ihre Mutter in der Küche beobachtete. Sie bereitete das Essen vor, während sich Alexa ein Blick in die Zukunft aufdrängte. Alles sah so selbstverständlich aus, doch was wäre, wenn ihre Mutter alt werden würde? Könnte sie ihr Tagwerk noch erledigen oder würde sie der körperliche Verfall so nach und nach in eine Fremde verwandeln? Sie wurde unruhig bei diesen Gedanken und sie beobachtete ihre Mutter nun noch genauer. Eines ging ihr gar nicht aus dem Kopf, da ihre Mutter sich solche Gedanken überhaupt nicht zu machen schien, und "immer lächelte sie so, als gäbe es nichts zu befürchten".

Einmal konnte sie die vermeintliche Bedrohung und die Gedanken an den zweifellos sehr nahen Tod der Eltern gar nicht mehr ertragen und griff zum Telefonhörer. "Nicht bereit, das Unabwendbare anzunehmen" schien ihr ihre Tante, die Apothekerin war, der einzige Ausweg zu sein und bat sie, "dringend ein Kräuterpulver gegen den Verfall ihrer Eltern zu entwickeln" ...

"Mama, das hast du schon 5mal erzählt" hat viel mehr zu bieten als der vielleicht etwas oberflächlich gehaltene Titel dem erstaunten Leser zunächst vortäuscht. Auch der Klappentext untertreibt mit seinen eher locker gehaltenen Formulierungen, und erst in den letzten Zeilen vermag er den Hauch einer Ahnung zu vermitteln, was den Leser tatsächlich erwartet.

Das Buch ist auf jeden Fall keine Eltern-Kind-Klamotte, im Stil einer nicht ernstzunehmenden, komödiantisch angehauchten, und mit satirisch aufgemotzter Selbstironie überfrachteten Gag-Sammlung mit intergrierter, beziehungstechnischer Situationskomik tapeziert, sowie mit zahllosen Klischees und den damit verbundenen maßlosen Übertreibungen überladen, so nach dem Motto: Jeder Satz ein Brüller. Die hat es auf dem Markt schon genug.

Vielmehr sind die handverlesenen Texte der sieben Autorinnen und Autoren außerordentlich sensibel erzählte Lebenssituationen und Momentaufnahmen großer Intensität. Ungekünstelt und in bodenständiger Ehrlichkeit entwerfen sie eine ganze Vielfalt von Gelebtem und Erlebtem, und erlauben uns so ganz nebenbei erstaunliche Einblicke in ihre ganz privaten Angelegenheiten.

Wir erfahren von Träumen, die in der Realität versiegen, lesen wahre Studien vom Zusammenleben der Generationen, die einerseits stets von Zusammenhalt leben, andererseits aber auch von großen Veränderungen. Sieben von Grund auf verschiedene Charaktere öffnen sich dem Leser und nehmen ihn ein gutes Stück mit auf ihren eigenen, ganz speziellen Weg.

Man gewinnt ganz erstaunliche Erkenntnisse sowie neue und einfach andere Sichtweisen der Dinge, beispielsweise weshalb Seniorenstifte Ghettos der Neuzeit sind, und die ganz neuen Sorgen der Kinder um ihre immer älter werdenden Eltern. Mitunter gibt es gerade in diesem Bereich gravierende Änderungen, denn die Kinder grämen sich etwa "nicht, weil sie Gallensteine haben, sondern gerade den Amazonas erforschen"!

Auch Sichtweisen über den Tod der Eltern hinaus werden angeboten, und spätestens an dieser Stelle wächst das Buch, diese bemerkenswert sensible Geschichtensammlung, über sich selbst hinaus. Malte Welding brichtet uns darüber. Viele Jahre sind die Eltern tot, und doch ändert sich sein Verhältnis zu ihnen ständig. "Mal bin ich wütend auf sie und liebe sie dennoch sehr ...".

Noch immer bin ich überrascht und ergriffen zugleich, denn eine solche Tiefe und Wahrhaftigkeit hatte ich in diesem Buch nicht zu finden gewagt. Schön sind sie, die Lebensgeschichten von Kindern und deren Eltern, lehrreich, ergreifend, belustigend und aufwühlend, ebenso geistreich wie auch manchmal zu Tränen rührend, und in jedem Fall ehrlich und mitten aus der unendlichen Vielfalt des Lebens nacherzählt und aufgeschrieben.

Endlich ein Buch, das wahr ist. Schon deshalb ist es wie kein anderes.

 

Thomas Lawall - Dezember 2012

 

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum